Ärztliches Credo
Ergänzende Texte (KLICK)
Weil die Gebührenordnung für Ärzte alle direkt am
Patienten zu erbringenden Leistungen unterbewertet, hat die einst
„sprechende Medizin“ weitgehend die Sprache verloren.
Heute steht die apparative Diagnostik im Vordergrund; häufig
überflüssig, potentiell schädlich aber lukrativ abzurechnen. Dies geht
zu Lasten des Aufbaus einer vertrauensvollen Arzt-Patienten Beziehung.
Bereits im Studium erfährt die hohe Kunst der Anamneseerhebung immer
weniger Beachtung. Es spielt keine Rolle mehr, dass die Effizienz des
diagnostischen Prozesses entscheidend von der Qualität und der Führung
durch die Anamnese abhängt. Dies gilt natürlich nur in geringem Maß oder
überhaupt nicht für den instrumentell-apparativen Bereich. Es wäre aber
verfehlt, den high-Tech- Bereich als repräsentativ für die ärztliche
Alltagspraxis zu sehen. In dieser nehmen jene Patienten einen immer
größeren Raum ein, die ohne eine tragfähige persönliche Beziehung zu
ihrem Arzt nur unzureichend versorgt werden können.
Neben dem großen Heer der Menschen mit chronischen und
chronisch-rezidivierenden Leiden ist die gesamte Palette der
psychiatrischen Störungen hinzu zu rechnen. Obgleich die Psychiatrie von
ihren wissenschaftlichen Anfängen an der Inbegriff einer
sprachgebundenen anthropologischen Disziplin war, wurde auch sie vom
Tsunami der allgemeinen Sprachlosigkeit überrollt. Wer sich an den einst
das Fach Psychiatrie gestaltenden großen Arztforscher-Persönlichkeiten
orientierend, um eine dem Individuum gerecht werdende
psychopathologische Analyse bemüht, wird bestenfalls nur müde belächelt.
Andererseits wird jeder Insider einräumen müssen, dass die Psychiatrie
das einzige medizinische Fach ist, in dem in den vergangenen 30 Jahren
wirkliche Fortschritte nicht erzielt worden sind - weder auf dem
labordiagnostischen noch dem pharmakologischen Sektor!
Wie anders als empört und beleidigt können die Fachrepräsentanten auf
eine solche Feststellung reagieren? Es gibt zu denken, dass dies die
gleichen, stets die Monstranz einer glorreichen Gegenwart wie auch noch
glorreichere Zukunft vor sich her tragende Leute sind, die die
Psychiatrie als selbständiges Fach am liebsten abschaffen möchten. An
die Stelle des Psychiaters soll der „Clinical Neuroscientist“ oder „Psychopharmacologist“
treten. Damit aber wird der Niedergang der Psychiatrie unausgesprochen
eingeräumt. Wer würde schon fordern, ein prosperierendes Fach mit
Zukunftsperspektiven aufzugeben?
Das Elend der Psychiatrie besteht darin, dass sich der Arzt (besser
gesagt „Mediziner“) kaum noch für die je einmalige Person interessiert,
sondern nur noch für möglichst operational definierte diagnostische
Gruppierungen. Kennzeichnend dafür sind jene sich als fortschrittlich
gerierende Kliniken, in denen man die Patienten bestimmten Modulen
zuordnet und voneinander separiert. Demgegenüber gilt unverändert, was
u. a. schon Karl Jaspers (1913) vor fast 100 Jahren so ausdrückte:
„Die eindringliche Versenkung in den einzelnen Fall lehrt oft das
Allgemeine für zahllose Fälle“.
Auf die „schiefe Bahn“ kam die Psychiatrie allerdings bereits, als sie
sich noch um Anerkennung ihrer Wissenschaftlichkeit bemühen musste. So
setzte sich seinerzeit innerhalb der Psychiatrie die den allgemeinen
Aufschwung der Medizin ermöglichende „kategoriale“ Sichtweise gegenüber
der „dimensionalen“ durch. Man bezahlte für die Aufnahme in die
medizinische Fakultät mit einem ungedeckten Wechsel auf die Zukunft.
Obgleich sich schon bald zeigte, dass in der Psychiatrie im Unterschied
zu den anderen Fächern „natürliche Krankheitseinheiten“ weit eher die
Ausnahme als die Regel sind, blieb man bis heute beim kategorialen
Modell, und dies sogar mit einer über die Zeit hinweg immer größer
gewordene Selbstverständlichkeit. Daran vermochte und vermag auch nichts
zu ändern, dass sich weisungsgebundene Klinikpsychiater selber, wie auch
ihren Patienten, tagtäglich Gewalt antun müssen, wenn sie diese - ihren
Dokumentationspflichten nachkommend - in das verordnete Prokrustes-Bett
eines bestimmten, ständigen Revisionen unterworfenen
Klassifikationssystems oder Moduls zwängen müssen.
Überfällig ist nicht die Abschaffung des Psychiaters zugunsten eines
Hirnspezialisten moderner Prägung, sondern – ganz im Gegenteil – die
Propagierung einer Sonderstellung der Psychiatrie, die den übrigen
medizinischen Fächern als Orientierungspunkt dienen könnte. Während
Proktologe, Nephrologe oder Kardiologe sich zu Recht als Spezialisten
für bestimmte Organe verstehen dürfen, kann es dem Psychiater nicht
erlaubt werden, sich mit einer Sachkompetenz für das Organ „Gehirn“ zu
bescheiden.
Das Gehirn steht nicht als ein Organ neben anderen Organen. Es ist
dasjenige Organ, das alle übrigen steuert. Es verkörpert die höchste
Integrationsstufe in der organismischen Funktionshierarchie. Dadurch
wird es zum „Liaisonorgan“, zur Schnittstelle zwischen einem Individuum
und seiner Umwelt. Wer sich mit den an das Gehirn gebundenen Leistungen
befasst, kann sich daher nicht auf Fragen von Funktionalität oder
Dysfunktionalität dieses Organs beschränken. Indem das Gehirn – anders
als etwa das Herz – ein Individuum bzw. eine Person und damit dessen
permanente Interaktion mit der Umwelt repräsentiert, ist stets die
Gesamtheit der von uns unterschiedenen Beschreibungsebenen zu
berücksichtigen: die physikalisch-chemische, physiologische,
erlebenspsychologische, soziale und kulturelle.
Daher muss der Psychiater ein Generalist sein, ein Arzt, der „aufs Ganze
geht“. Praktisch bedeutet diese Kennzeichnung zunächst einmal die
Fähigkeit und Bereitschaft zuzuhören, daraufhin relevante Fragen zu
formulieren im Bestreben, dem Gespräch eine (vorläufige)
erfolgversprechend Richtung zu geben; ferner, zunächst zusammenhanglos
im Raum stehende Einzelbefunde aus vollkommen disparaten
Beschreibungsbereichen in einen Zusammenhang zu bringen und schließlich
in Abstimmung mit dem Kranken das für sein Wohlergehen Notwendige zu
veranlassen, handele es sich um eine bestimmte Zusatzdiagnostik, die
stets durch eine klar formulierte Fragestellung zu rechtfertigen ist
oder um die Einleitung einer Therapie.
Es wäre weltfremd anzunehmen, dass derartige Idealvorstellungen
innerhalb der Vorgaben unseres Gesundheitswesens zu realisieren wären.
Nach Jahrzehnten eines ebenso unausweichlichen wie unbefriedigenden
Arrangements habe ich mir nach Wegfall ökonomischer Zwänge einen
Freiraum schaffen können, um zusammen mit einer überschaubaren Klientel
vom Menschen mit psychiatrierelevanter Problematik, die Praktikabilität
und Effizienz meiner in 40 Berufsjahren gewachsenen Vorstellungen von
Psychiatrie auszuloten.
Ergänzende Texte (Zum Öffnen bitte auf die einzelnen Punkte klicken)
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